Mittwoch, 1. Juni 2011

Gaios Geschichten 2: Die Kokosnuss

„Wir waren fast drei Wochen hier, es ist der perfekte Ort zum Entspannen und einfach am Strand herumliegen.“
Gaio freute sich schon auf diesen Ort, den das Paar beschrieb. Die beiden waren schon vor wenigen Monaten einmal dort gewesen, jetzt kehrten sie zurück, weil es ihnen so gut gefallen hatte. Es war das Paradies für Individualreisende, in der Hochsaison vielleicht etwas überlaufen, aber jetzt genau richtig, dachte er. Der Reiseführer versprach einen Strand, der von allen Stränden an der Küste dem palmenbewachsenen aus der Bountywerbung am ähnlichsten sah.
Die Rikscha, die er sich mit dem Paar teilte, bog gerade in eine Straße ein, die gesäumt war mit Läden, die Andenken und Ethnokitsch verkauften. Jeder dritte Eingang führte zu einem Internetcafé, es gab Reisebüros, Hotels und Restaurants. Alles, was das Reiseherz begehrte. Gaio war der Ort gleich unsympathisch, auch wenn er es nie zugegeben hätte. So viele Leute schwärmten davon, er würde nicht seinen ersten Eindruck entscheiden lassen.
„Do you need a room? Best price, best price!“ belagerte ihn schon beim Aussteigen der erste Hotelbesitzer.
„No, thank you.“ Gaio wollte sich seine Unterkunft selbst suchen. Also ging er zum Strand. Er war überwältigt, aber nicht aus dem Grund, den er erwartet hatte. Der Strand war voller Touristen, die sich in Bikinis und Badehosen in der Sonne wälzten, und dabei von Hennazeichnerinnen belagert wurden, die ihren Kunden ein temporäres Tattoo verpassen wollten. Hinter dem Strand selbst gab es zwar lauter Palmen, die voller Kokosnüsse hingen. Die konnten aber kaum frei stehen, weil dazwischen eine Holzhütte neben der anderen stand. Vom Bountystrand keine Spur, dachte Gaio, und machte sich auf die Suche nach einer geeigneten Unterkunft. Er fand eine einfache Holzhütte im hinteren Teil des Palmenhains. Der Preis war angemessen, also warf Gaio seinen Rucksack in die Ecke und ging wieder zum Strand. Der weiche Sand zwischen seinen Zehen fühlte sich gut an, und Gaio zwang sich, die Situation zu genießen. Irgendwann würde er schon verstehen, was an diesem Ort so toll war, dachte er.
Das Essen, das er sich bestellte war in Ordnung. Er beobachtete die einheimischen Frauen, die sich neben die sonnenverbrannten Touristen knieten um ihnen ihre Tattooentwürfe zu zeigen. Komisches Leben, dachte Gaio. Nach dem Essen kaufte er sich eine Kokosnuss bei einem der Straßenverkäufer an der Hauptstraße. Dort wurden die frischen Kokosnüsse an Ort und Stelle geschickt mit einer Machete aufgehackt, und mit einem Strohhalm konnte man das erfrischende Kokoswasser direkt aus der Nuss trinken. Der Verkäufer stellte sich als Alfredo vor und war ein netter älterer Mann. Er hatte offensichtlich Spaß an seinem Job und ihn nervten auch die Touristen nicht.
Gaio unterhielt sich mit Alfredo, als er seine Kokosnuss trank, und verabschiedete sich. Er wollte nochmal zum Strand um sich auf sein Ziel zu konzentrieren, den Zauber des Ortes endlich zu entdecken.
Die Sonne ging unter und ein paar mit Lichterketten gut inszenierte Bars boten ihre Drinks an. Gaio probierte einen, fand aber den Geschmack so fad wie die Atmosphäre. Der Zauber muss wohl bis morgen warten, dachte er, und machte sich auf den Weg ins Bett.
Am nächsten Morgen entschied sich Gaio, den Strand etwas weiträumiger zu erkunden. Er sah die Kokosnuss schon von Weitem. Sie war enorm und stand gerade so weit von der Palme ab, dass die noch stabil hing, aber in nicht allzu langer Zeit herunter fallen würde. Gaio wollte diese Nuss haben. Doch wie sollte er herankommen?
Zunächst probierte er es mit Steinen, doch er verfehlte das kleine Ziel in acht Metern Höhe jedes Mal. Dann schleuderte er Stöcke nach der Nuss, doch auch diese Methode führte zu keinem Ergebnis. Er starrte die Nuss lange an, die in der Krone der Palme hing. Sie war so saftig und prall, dass Gaio das Wasser im Mund zusammen lief.
Und was jetzt? Ich brauche professionelle Hilfe, dachte Gaio.
Er ging zu Alfredos Stand.
„Want a coconut?“ fragte dieser.
„Yes, but none of yours this time. I saw one that's still in the palmtree.“
„Oh, my friend. You want to climb the palmtree?“
„Is that possible?
„Of course it is possible, all palmtrees have stairs.“
„They have what?“
„Stairs. Every palmtree has stairs, we use them to go up. Look!“
Er zeigte auf eine Palme am Ende der Straße. Gaio folgte seinem Finger und sah sich zum ersten Mal den Stamm einer Palme genauer an. Tatsächlich! Die Palme hatte Stufen! Kleine, in den Stamm gehauene Stufen. Sie waren so angeordnet, dass man abwechselnd auf der linken und auf der rechten Seite Halt finden konnte. Der Weg zu seiner Kokosnuss war so einfach und direkt vor seiner Nase. Wie hatte Gaio das nur verpassen können? Er war so fixiert auf die Kokosnuss gewesen, dass er den Stamm nie genauer angesehen hatte.
„You take this rope and this knife. Also, you need a net.“ Mit dem Seil sollte sich Gaio sichern, das Messer diente zum Abschneiden der Kokosnuss und das Netz zum sicheren Abtransport aus der Höhe.
„You cut the coconut and bring it here. I will open it for you.“
Gaio war euphorisch. Er lief zu seiner Palme, und da war sie, die Kokosnuss. Sie sah jetzt noch praller und saftiger aus als vorher. Gaio wunderte sich auch hier, wie er die Stufen in der Palme vorher übersehen hatte. Er schlang das Seil um seine Hüften und den Baum, setzte einen Fuß in die erste Stufe, spannte das Seil und fing an zu klettern. Es klappte gut, nach wenigen konzentrierten Schritten war er bereits auf halber Höhe. Das kurze Schwindelgefühl, als er nach unten blickte, verging schnell. Zu groß war die Freude und zu stark das Adrenalin. Nach wenigen weiteren entschlossenen Schritten war er schon oben angekommen. Er konnte von hier weit den Strand entlang sehen. Gleich dort hinten sah er die Touristen, wie sie sich sonnten, Sonnencreme auf ihre verbrannte Haut schmierten und Bier aus der Flasche tranken. Gaio sah jetzt, wie ungern er sich an diesem Ort aufhielt.
Eine Böe erfasste die Palme und zwang Gaio, sich fest an sein Seil zu klammern. Sein Stand war sicher, und so hielt er das Schwanken aus, bis es vorüber war. Seine Kokosnuss war jetzt in Griffweite. Er zog das Messer aus der Scheide an seinem Gürtel, hielt die Kokosnuss mit der linken Hand fest, während er sie mit der rechten am Stiel abschnitt. Sie fühlte sich schwer an und er war froh, als er sie in das Netz legen konnte, das ebenfalls an seinem Gürtel hing. Er verstaute das Messer und machte sich an den Abstieg.
Stolz kam er um die Ecke, hinter der Alfredo seinen Stand hatte. Alfredo brauchte drei gezielte Schläge mit seiner Machete, um die Kokosnuss zu öffnen. Er steckte einen Strohhalm hinein und reichte sie Gaio.
„I am leaving later“, sagte Gaio.
„Really? You don't like this place?“
„It's not where I want to be. I am going further south, to a more quiet place.“
Die Kokosnuss schmeckte sehr süß.

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