Donnerstag, 30. Juni 2011

Gaios Geschichten 3: Buddha Day

Gaio war gerade in Bangkok angekommen, jetzt wollte er auf Erkundungstour gehen. Es war früher Vormittag und sein erstes Ziel war der Königspalast Wat Pra Keo, eine der Hauptattraktionen der Stadt und nur wenige hundert Meter von seinem Hotel entfernt. Er machte sich zu Fuß auf den Weg, musste eigentlich nur geradeaus gehen.
Am Straßenrand stand ein thailändischer Mann mittleren Alters, gut angezogen, der ihn ansprach.
„Where are you going?“
Gaio war misstrauisch, Schlepper und Abzocker war er aus Indien noch gewohnt.
„Just walking around!“
„The palace is over there, but today it's closed!“
„Ok, ok. Thank you!“
„I want to help you. Only today is Buddha Day, national holiday. Palace closed!“
„Ok, thank you!“
Gaio ließ den Mann mit ein wenig schlechtem Gewissen stehen. Was, wenn der Mann ihm wirklich nur helfen wollte? Und wenn er Recht hat und heute wirklich ein Feiertag ist, vielleicht ist der Königspalast wirklich geschlossen. Und wie komme ich jetzt hier über diese Straße?
Die sechsspurige Stadtautobahn war nicht leicht zu überqueren. Weiter hinten sah Gaio aber einen Fußgängerübergang über eine der zahlreichen Abzweigungen. Das war zumindest schon mal die richtige Richtung.
Er gelangte an den Übergang und wurde wieder angesprochen.
„Are you going to the palace? Today it's closed, today is a holiday. Buddha Day.“
Noch einer mit derselben Geschichte?
„You can go to Standing Buddha, biggest standing Buddha of Bangkok. Government promotion, very cheap Tuktuk!“
Was wenn diese Feiertagsgeschichte stimmt? Der größte stehende Buddha Bangkoks hört sich auch nicht so schlecht an.
„You can also visit other temples. Today Buddha festival, very special day!“
Gaio glaubte die Geschichte trotzdem nicht ganz, also machte er sich daran, die Straße zu überqueren. Der erste Zebrastreifen brachte ihn bis zum Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen, dort musste er wieder warten.
Mit einem Lächeln sagte der Mann hinter ihm: „I just want to help, please! You don't need to pay me!“
Vielleicht meint er es erst, dachte Gaio. Ok, was kann ich schon verlieren, dann höre ich eben mal zu. Er ging über die Straße zurück und der gepflegte Mann fing an, Gaio von verschiedenen Tempeln zu erzählen, die aufgrund des Feiertags an diesem Tag besonders schön zu besichtigen seien. Neben dem riesigen stehenden Buddha sollte es einen tollen sitzenden Buddha geben, einen schwarzen Buddha und zum Schluss einen Tempel oben auf einem Berg, von dem man eine gute Aussicht über die Stadt genießen kann. Und weil eben Feiertag ist, bekommen die Tuktuk-Fahrer Unterstützung von der Regierung, deshalb kostet die Runde fast nichts. Vielleicht keine schlechte Sache, am ersten Bangkoktag mal ein bisschen die Stadt erkunden, dachte Gaio. Der Mann hatte die Ziele auf ein Stück Papier geschrieben, das er dabei gehabt hatte. Ob das Gaios erster Tag in Thailand sei? Ja, gestern Abend angekommen. Dann müsse er wissen, dass man in Thailand super einkaufen kann. Kleidung, Schmuck, Spielzeug, alles. Danke, aber einkaufen wolle er nicht, sagte Gaio. Auch kein Problem, so der nette Helfer, falls er mal Lust bekommen sollte, schreibe er hier auf den Zettel den Namen der Läden: Thai Export. Dort gebe es billige und gute Sachen ohne Steuern für Touristen.
Gaio ließ sich den Zettel geben und ging mit dem Mann zu einem in der Nähe wartenden Tuktuk. „20 Baht für die gesamte Runde. Das war wirklich fast nichts.
„You very lucky. It's Buddha Day!“, sagte der Fahrer.
Sieht wirklich so aus als hätte ich Glück gehabt. Gaio rutschte auf seiner gemütlichen Sitzbank hinten in dem dreirädrigen Moped so hin, dass er gut die Stadt vorbeirauschen sehen konnte. Sie fuhren über große Straßen, durch kleine Gassen, an Wäschereien, Werkstätten und unzähligen Essensständen vorbei, die Snacks aus Fleisch und Reis verkauften, manchmal gebratene Nudeln, und alles direkt zum Mitnehmen und gleich essen. Mittags würde er sich an diesen Ständen satt essen, dachte Gaio.
Sie kamen beim ersten Tempel an, und der nette Mann hatte nicht zu viel versprochen. Der dort stehende Buddha war tatsächlich riesig. 36 Meter hoch, komplett vergoldet, eine Hand erhoben. Bei seinen gigantischen Füßen legten Gläubige Blumen nieder. Über Lautsprecher machte ein Mann Ansagen auf Thai, an mehreren Ständen, die im Tempelhof aufgebaut waren, saßen Thais. Das muss wegen dem Buddha Day sein, dachte Gaio, als er zurück zum wartenden Tuktuk ging. Jetzt zum sitzenden Buddha, dachte er. Sie fuhren wieder durch ein verwirrendes Straßengewühl und kamen bei einem kleineren Tempel an.
„Sitting Buddha!“, ließ ihn sein Fahrer wissen, und Gaio steig aus um den Tempel zu betreten. Im Hof sah er einen Thai sitzen und warten. Der Tempel sei gerade zu, sagte der Mann. Er warte schon eine Stunde. Auf Thai fragte er einen Mann, der an der Tempelmauer Maurerarbeiten erledigte, wie lange es noch dauern würde. Fünf Minuten war anscheinend die Antwort, so lange beten die Mönche im Inneren noch. Wo Gaio herkomme und wie lange er schon in Thailand sei, wollte der Mann wissen. Er selbst komme einmal im Jahr nach Thailand, er lebe eigentlich in Australien. Und heute am Buddha Day gehe er gerne in den Tempel.
Nach guten zehn Minuten hatte Gaio genug gewartet. Schade, dachte er, aber ich habe ja noch ein paar Tempel vor mir.
Der Tuktuk Fahrer hatte jetzt eine Bitte an Gaio. Er erklärte ihm, dass Fahrer am Buddha Day Benzingutscheine bekommen, wenn ihre Kunden in bestimmte Läden gehen. Sonderprogramm der Regierung. Ob Gaio nicht in so einen Laden gehen könne? Er müsse auch wirklich nichts kaufen, nur reingehen und schauen, damit er den Benzingutschein bekäme. Wenigstens ist er ehrlich, dachte Gaio, und wahrscheinlich ist das mein Teil der Abmachung. Ich zahle fast nichts, dafür arbeite ich ein bisschen für meinen Fahrer.
Also fuhren sie zu einem Schmuckladen. Ohnehin nicht das, was Gaio zum Kauf verführen würde, also blieb er nur kurz. Ob er seinen Coupon bekommen habe, fragt er den Fahrer. Ja, alles bestens, war die Antwort, also ging es weiter zum nächsten Tempel. Hier sollte es einen schwarzen Buddha zu sehen geben. Als Gaio vor dem Tempel stand, war er leicht enttäuscht, die Türen waren verschlossen. Ein thailändischer Mann mit umgehängter Kamera sprach ihn an. Er sei aus London, mache hier Urlaub. War vorher in Hua Hin am Strand, nett und ruhig dort, viele Familien. Ob Gaio schon viel gesehen habe? Der Thai sprach perfektes Englisch, britischer Akzent. Ob Gaio schon zu einem Laden gefahren sei? Ja, zu einem Schmuckladen. Gekauft habe er aber nichts, so Gaio. Warum denn nicht? Er mache das die ganze Zeit, der Schmuck sei hier sehr billig, den kann er in England teuer weiterverkaufen!
Gaios Alarmglocken schrillten. Davon hatte er gehört. Banden, die Touristen zum Kauf minderwertiger Edelsteine überredeten, für die sich in Europa kein Juwelier interessiert. Es gab sogar Selbsthilfegruppen für Opfer dieser Banden, die viel Geld verloren hatten.
Er wechselte schnell das Thema und verließ zügig den Tempel. Zurück im Tuktuk wollte der Fahrer noch einen Coupon, diesmal von einem Reisebüro. Gaio solle nur kurz reingehen, vielleicht ein paar Fragen stellen. Das tat Gaio, bekam aber statt konkreter Antworten nur überteuerte Angebote für Komplettpakete, fast wie ein Pauschalurlaub. Das wollte Gaio nicht. Der Berater ließ Gaio wissen, dass er aber schnell buchen müsse, da gerade Hochsaison sei. Jetzt gerade ist Hochsaison? Es ist Juni, die Saison geht bis April. Nein, nein, im Juli kommt der Regen, davor wollen alle noch einmal in den Urlaub. Deswegen ist alles voll!
Gaio glaubte kein Wort und verließ das Reisebüro. Er hoffte, die vielen anderen Touristen, die er mit Tuktuks hier vorfahren sah, fielen nicht auf solche Sprüche herein.
Der Fahrer brachte ihn zum nächsten Tempel. Dieser war zum Glück offen, und als er den Tempel betrat, kam ihm ein lächelnder, älterer Herr entgegen. Er erklärte Gaio, wo die Mönche sitzen und wo die normalen Menschen. Seinen Hut müsse er abnehmen. Dann dreimal eine Verbeugung vor der zentralen Buddhafigur, die wieder komplett vergoldet war. Nun könne man sich etwas wünschen, um sich danach wieder dreimal zu verbeugen.
Gaio war froh über diese Unterweisung, er hatte bis jetzt nicht genau gewusst, wie man sich in einem buddhistischen Tempel zu verhalten hatte. Wo er herkomme und wie lange er schon in Thailand sei, fragte der ältere Herr. Er selbst sei Lehrer, unterrichte Englisch und komme immer nach dem Unterricht hier in den Tempel. Im Nachbargebäude hörte Gaio Kindergeschrei. Die Schule wahrscheinlich. Die beiden unterhielten sich ein wenig. Das Gespräch kam aufs Einkaufen. In Thailand könne man sehr gut Kleidung kaufen, maßgeschneiderte Anzüge zum Beispiel. Ob Gaio mit dem Tuktuk hier sei? Das ist heute ja besonders billig wegen dem Buddha Day, da habe Gaio Glück. Fünf Minuten von hier gebe es einen guten Laden, der super gute maßgeschneiderte Kleidung mache. Top Ten sei der Name, Gaio solle seinem Fahrer sagen, dass er dort hin wolle.
Das war nicht nötig, denn der Fahrer wollte ohnehin noch einen Benzincoupon. Er fuhr Gaio zu einem Laden in dem es Kleidung gab – Top Ten.
Drinnen schaute sich Gaio ein paar Kataloge an und unterhielt sich mit dem Verkäufer, einem netten Typen. Er kaufte nichts.
Der Fahrer hatte wohl seinen Coupon bekommen, er ewartete Gaio lächelnd. Mittlerweile war es schon nach Mittag und Gaio hatte Hunger. Er wollte erstmal keine Tempel mehr sehen, also sagte er dem Fahrer, er wolle dorthin, wo er zugestiegen sei. Ob er vorher noch einen Coupon holen könne? Nur einen? Nagut, einen. Es ging in ein weiteres Reisebüro, auch hier mit schlechten und teuren Auskünften.
Gaio gab seinem Fahrer die 20 Baht und verabschiedete sich. Den Rest des Tages nutzte er zum Herumlaufen. Er ging sogar beim Königspalast vorbei, und sah, dass er jetzt offen hatte. Am Eingang versicherte man ihm, dass er morgen auch offen habe.
Am nächsten Tag machte er sich also auf den Weg zum Königspalast und nahm denselben Weg wie am Vortag. Wieder wurde er angesprochen, aber von einem anderen Mann als das letzte Mal. Gaio wusste schon vorher, was er sagen würde.
„The Palace is closed. Today Buddha Day, only today!!“

Mittwoch, 1. Juni 2011

Gaios Geschichten 2: Die Kokosnuss

„Wir waren fast drei Wochen hier, es ist der perfekte Ort zum Entspannen und einfach am Strand herumliegen.“
Gaio freute sich schon auf diesen Ort, den das Paar beschrieb. Die beiden waren schon vor wenigen Monaten einmal dort gewesen, jetzt kehrten sie zurück, weil es ihnen so gut gefallen hatte. Es war das Paradies für Individualreisende, in der Hochsaison vielleicht etwas überlaufen, aber jetzt genau richtig, dachte er. Der Reiseführer versprach einen Strand, der von allen Stränden an der Küste dem palmenbewachsenen aus der Bountywerbung am ähnlichsten sah.
Die Rikscha, die er sich mit dem Paar teilte, bog gerade in eine Straße ein, die gesäumt war mit Läden, die Andenken und Ethnokitsch verkauften. Jeder dritte Eingang führte zu einem Internetcafé, es gab Reisebüros, Hotels und Restaurants. Alles, was das Reiseherz begehrte. Gaio war der Ort gleich unsympathisch, auch wenn er es nie zugegeben hätte. So viele Leute schwärmten davon, er würde nicht seinen ersten Eindruck entscheiden lassen.
„Do you need a room? Best price, best price!“ belagerte ihn schon beim Aussteigen der erste Hotelbesitzer.
„No, thank you.“ Gaio wollte sich seine Unterkunft selbst suchen. Also ging er zum Strand. Er war überwältigt, aber nicht aus dem Grund, den er erwartet hatte. Der Strand war voller Touristen, die sich in Bikinis und Badehosen in der Sonne wälzten, und dabei von Hennazeichnerinnen belagert wurden, die ihren Kunden ein temporäres Tattoo verpassen wollten. Hinter dem Strand selbst gab es zwar lauter Palmen, die voller Kokosnüsse hingen. Die konnten aber kaum frei stehen, weil dazwischen eine Holzhütte neben der anderen stand. Vom Bountystrand keine Spur, dachte Gaio, und machte sich auf die Suche nach einer geeigneten Unterkunft. Er fand eine einfache Holzhütte im hinteren Teil des Palmenhains. Der Preis war angemessen, also warf Gaio seinen Rucksack in die Ecke und ging wieder zum Strand. Der weiche Sand zwischen seinen Zehen fühlte sich gut an, und Gaio zwang sich, die Situation zu genießen. Irgendwann würde er schon verstehen, was an diesem Ort so toll war, dachte er.
Das Essen, das er sich bestellte war in Ordnung. Er beobachtete die einheimischen Frauen, die sich neben die sonnenverbrannten Touristen knieten um ihnen ihre Tattooentwürfe zu zeigen. Komisches Leben, dachte Gaio. Nach dem Essen kaufte er sich eine Kokosnuss bei einem der Straßenverkäufer an der Hauptstraße. Dort wurden die frischen Kokosnüsse an Ort und Stelle geschickt mit einer Machete aufgehackt, und mit einem Strohhalm konnte man das erfrischende Kokoswasser direkt aus der Nuss trinken. Der Verkäufer stellte sich als Alfredo vor und war ein netter älterer Mann. Er hatte offensichtlich Spaß an seinem Job und ihn nervten auch die Touristen nicht.
Gaio unterhielt sich mit Alfredo, als er seine Kokosnuss trank, und verabschiedete sich. Er wollte nochmal zum Strand um sich auf sein Ziel zu konzentrieren, den Zauber des Ortes endlich zu entdecken.
Die Sonne ging unter und ein paar mit Lichterketten gut inszenierte Bars boten ihre Drinks an. Gaio probierte einen, fand aber den Geschmack so fad wie die Atmosphäre. Der Zauber muss wohl bis morgen warten, dachte er, und machte sich auf den Weg ins Bett.
Am nächsten Morgen entschied sich Gaio, den Strand etwas weiträumiger zu erkunden. Er sah die Kokosnuss schon von Weitem. Sie war enorm und stand gerade so weit von der Palme ab, dass die noch stabil hing, aber in nicht allzu langer Zeit herunter fallen würde. Gaio wollte diese Nuss haben. Doch wie sollte er herankommen?
Zunächst probierte er es mit Steinen, doch er verfehlte das kleine Ziel in acht Metern Höhe jedes Mal. Dann schleuderte er Stöcke nach der Nuss, doch auch diese Methode führte zu keinem Ergebnis. Er starrte die Nuss lange an, die in der Krone der Palme hing. Sie war so saftig und prall, dass Gaio das Wasser im Mund zusammen lief.
Und was jetzt? Ich brauche professionelle Hilfe, dachte Gaio.
Er ging zu Alfredos Stand.
„Want a coconut?“ fragte dieser.
„Yes, but none of yours this time. I saw one that's still in the palmtree.“
„Oh, my friend. You want to climb the palmtree?“
„Is that possible?
„Of course it is possible, all palmtrees have stairs.“
„They have what?“
„Stairs. Every palmtree has stairs, we use them to go up. Look!“
Er zeigte auf eine Palme am Ende der Straße. Gaio folgte seinem Finger und sah sich zum ersten Mal den Stamm einer Palme genauer an. Tatsächlich! Die Palme hatte Stufen! Kleine, in den Stamm gehauene Stufen. Sie waren so angeordnet, dass man abwechselnd auf der linken und auf der rechten Seite Halt finden konnte. Der Weg zu seiner Kokosnuss war so einfach und direkt vor seiner Nase. Wie hatte Gaio das nur verpassen können? Er war so fixiert auf die Kokosnuss gewesen, dass er den Stamm nie genauer angesehen hatte.
„You take this rope and this knife. Also, you need a net.“ Mit dem Seil sollte sich Gaio sichern, das Messer diente zum Abschneiden der Kokosnuss und das Netz zum sicheren Abtransport aus der Höhe.
„You cut the coconut and bring it here. I will open it for you.“
Gaio war euphorisch. Er lief zu seiner Palme, und da war sie, die Kokosnuss. Sie sah jetzt noch praller und saftiger aus als vorher. Gaio wunderte sich auch hier, wie er die Stufen in der Palme vorher übersehen hatte. Er schlang das Seil um seine Hüften und den Baum, setzte einen Fuß in die erste Stufe, spannte das Seil und fing an zu klettern. Es klappte gut, nach wenigen konzentrierten Schritten war er bereits auf halber Höhe. Das kurze Schwindelgefühl, als er nach unten blickte, verging schnell. Zu groß war die Freude und zu stark das Adrenalin. Nach wenigen weiteren entschlossenen Schritten war er schon oben angekommen. Er konnte von hier weit den Strand entlang sehen. Gleich dort hinten sah er die Touristen, wie sie sich sonnten, Sonnencreme auf ihre verbrannte Haut schmierten und Bier aus der Flasche tranken. Gaio sah jetzt, wie ungern er sich an diesem Ort aufhielt.
Eine Böe erfasste die Palme und zwang Gaio, sich fest an sein Seil zu klammern. Sein Stand war sicher, und so hielt er das Schwanken aus, bis es vorüber war. Seine Kokosnuss war jetzt in Griffweite. Er zog das Messer aus der Scheide an seinem Gürtel, hielt die Kokosnuss mit der linken Hand fest, während er sie mit der rechten am Stiel abschnitt. Sie fühlte sich schwer an und er war froh, als er sie in das Netz legen konnte, das ebenfalls an seinem Gürtel hing. Er verstaute das Messer und machte sich an den Abstieg.
Stolz kam er um die Ecke, hinter der Alfredo seinen Stand hatte. Alfredo brauchte drei gezielte Schläge mit seiner Machete, um die Kokosnuss zu öffnen. Er steckte einen Strohhalm hinein und reichte sie Gaio.
„I am leaving later“, sagte Gaio.
„Really? You don't like this place?“
„It's not where I want to be. I am going further south, to a more quiet place.“
Die Kokosnuss schmeckte sehr süß.

Freitag, 27. Mai 2011

Gaios Geschichten 1: Kailash

„Where are you going tomorrow?“
„I don't know. To the Ellora-Caves maybe“.
„I can get you an A/C Taxi with a guide, you drive there in the morning and come back in the evening.“
„How much is it?“
„900 Rupees only!“
Schon wieder jemand, der etwas verkaufen will. Das ging Gaio langsam auf die Nerven. Er hatte im Reiseführer gelesen, dass man ganz einfach und billig mit dem öffentlichen Bus zu den berühmten Höhlen von Ellora fahren kann. Auf die Klimaanlage konnte er verzichten und die 900 Rupien konnte er auch nicht so einfach aus seinem Budget reißen.
„Ah, ok“.
„It's with A/C! And you have as much time as you like in Ellora. The caves are beautiful“.
„I know, thank you, I need to think about it“.
„Ok, you think about it. Later you come back and tell me!“
„Ok, good“.
„I am here until 8“.
„Ok“.
Gaio hatte nicht die Absicht, zurück zu kommen, nur um Bescheid zu sagen, dass er das Taxi nicht wollte. Er wollte nur hier in dem kleinen Reisebüro sitzen, weil es drahtloses Internet anbot. Das Reisebüro lag außerdem direkt neben seinem Hotel, es war bequem mit dem Laptop hierher zu kommen.
„Later you come and tell me about the Taxi!“, sagte der junge Mann vom Reisebüro noch mal, als Gaio fertig war und ging.
„Ok, ok. Bye!“, war alles, was er erwiderte.
Den Nachmittag verbrachte Gaio damit, die Stadt zu erkunden. Aurangabad war ziemlich uninteressant, abgesehen davon, dass es sich gut als Ausgangspunkt für einige Unternehmungen in der Region eignete. Der Mangosaft schmeckte aber auch hier vorzüglich. Auf dem Rückweg kam Gaio am Busbahnhof vorbei. Er sah, von wo der öffentliche Bus nach Ellora fuhr. Jetzt konnte morgen nichts mehr schief gehen.
Von den Stufen zum Hoteleingang konnte man in das kleine Reisebüro blicken – und zurück. Mist, dachte Gaio. Nicht, dass mich der nervige Verkäufer sieht und eine Antwort will. Er huschte die Stufen hinauf und vermied jeden Blick zum Reisebüro hinüber.
Der Tag in den Höhlen von Ellora war wundervoll. Buddhisten, Hinduisten und Jainisten hatten hier vor vielen Hundert Jahren aufwändige Tempelhöhlen aus dem Fels gehauen, in denen die in der Nähe vorbeiziehenden Händler und Pilger beten konnten. Die Beeindruckendste davon war eigentlich keine Höhle, sondern ein gigantischer Tempel, der aus einem massiven Stück Fels bestand. Er hieß „Kailash-Tempel“, und war sowohl wegen seiner Dimension umwerfend, wie auch wegen seiner künstlerischen Detailverliebtheit. Gaio schoss eine Unmenge Fotos und genoss die einsame Stille in den verlassenen Ecken des Kailash-Tempels. Er setzte sich hin und stellte sich vor, auf dem Berg Kailash zu sitzen, Shivas Heimat im Himalaya, nach welcher der Tempel hier benannt war. Dort war es kühl und angenehm, der Kailash war ein Ort des Friedens, ebenso wie der Kailash-Tempel hier in Ellora.
Zurück in Aurangabad fiel Gaio erschöpft ins Bett, nachdem er beim Hoteleingang wiederum den Blicken des Reisbüroangestellten ausgewichen war.
Am darauffolgenden Tag musste Gaio Zeit totschlagen. Er hatte einen Nachtzug gebucht und bis der am Abend losfahren würde, hatte er nichts zu tun, außer übers Internet zurück in seiner Heimat einige Sachen zu klären. Ok, dann eben wieder in das Reisebüro mit dem nervigen Angestellten.
„I would like to use the wireless Internet again“
„Ok, you can sit over there“
Gaio vermied Blickkontakt und konzentrierte sich auf seine Emails. Es dauerte länger als er gedacht hatte. Nach etwa einer Stunde setzte sich der Angestellte auf eine Bank am Rand des Raums, von wo aus er Gaio sehen konnte.
„Are you hungry?“
Gaio hatte tatsächlich Hunger. Der Angestellte packte gerade sein Mittagessen aus.
„Come here!“
Er bot Gaio etwas von dem Fladenbrot an, das er von zuhause mitgebracht hatte und füllte ihm einen Teil seines Bohnengerichtes in einen Behälter. Gaio war überrascht über das freundliche Angebot. Er setzte sich zu dem Angestellten, gemeinsam aßen sie.
„This tastes great, who made it?“
„My mother“.
„She is a good cook!“
„Thank you“, beide lächelten. Sie unterhielten sich über indisches Essen und Mütter, die sich überall auf der Welt um ihre Söhne kümmerten. Der Angestellte erzählte ihm, dass er nächsten Monat heiraten würde, dass sich die Väter des Brautpaares gerade über die Hochzeit geeinigt hätten. Gaio erzählte von seiner Reise, und dass er noch weitere neun Monate unterwegs sein würde.
„I study Microbiology“, sagte der Angestellte. „In vacation time I have to work here, because my family has many moneyproblems. I get 1500 Rupees a month“.
Das sind nur 25 Euro, dachte Gaio.
Nach dem Essen setzte sich Gaio wieder an seinen Laptop und arbeitete weiter. Als er fertig war, stand er auf und zahlte.
„Thanks again for the great meal, it tasted delicious“
„No problem, it was nice meeting you!“
„My name is Gaio, by the way. What's your name?“
„It's Kailash. Like Shiva's mountain in Himalaya.“